Ein Bild von dem Plenarsaal im Berliner AbgeordnetenhausFred
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Rede zur Aktuellen Stunde „80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz: Die Brandmauer gegen Faschismus und Rechtsextremismus darf nicht fallen“

Mein Redebeitrag zur Aktuellen Stunde im Berliner Abgeordnetenhaus – „80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz: Die Brandmauer gegen Faschismus und Rechtsextremismus darf nicht fallen“

Tobias Schulze (LINKE):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 13. Mai 1939 bestieg Familie Manasse aus Berlin-Wilmersdorf – Oma Ida, Herbert und Emmy und deren Sohn Wolfgang – im Hamburger Hafen das Schiff „St. Louis“ mit dem Fahrtziel Havanna. Die jüdische Familie hatte sich nach dem Pogrom vom 9. November 1938 unter den schon äußerst schwierigen Bedingungen der Rassegesetze Ausreisepapiere und Schiffsticket besorgt. An Bord des Schiffs waren 937 jüdische Passagiere, die ihr Leben retten wollten.
Was sie nicht wussten: In Havanna hatte eine faschistische und antisemitische Bewegung die Verschärfung der Einreiseregelungen durchgesetzt. Nach einigen Tagen Verhandlungen musste das Schiff das kubanische Gebiet wieder verlassen. Auch die USA und Kanada nahmen die über 900 Jüdinnen und Juden nicht auf. Kapitän Gustav Schröder musste umdrehen – die „St. Louis“ fuhr wieder nach Europa. Angst und Panik griffen an Bord um sich. Schröder wollte seine Passagiere auf gar keine Fall nach Deutschland bringen und erreichte am 17. Juni Antwerpen. Die Geflüchteten wurden auf die Niederlande, auf Großbritannien oder wie Familie Manasse auf Frankreich aufgeteilt.
Waren aber die Vier aus Berlin damit in Sicherheit? – Nein. Nach einer Zeit in Frankreich, nach einer abenteuerlichen und gefährlichen Flucht über die Alpen nach Italien wurden sie im September 1943 von der SS aufgegriffen. Ihre Flucht endete grausam im Vernichtungslager Auschwitz, wo die gesamte Familie Manasse kurz nach der Ankunft ermordet wurde. Sie wurden ermordet, weil sie Juden waren, und sie hätten überleben können, wenn es ein Asylrecht gegeben hätte.
Als Reaktion auf die Vernichtung von 6 Millionen europäischen Juden, von Roma und Sinti und anderen Gruppen beschlossen 26 Staaten 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention. Schicksale wie das der Berliner Familie Manasse soll es fortan nicht mehr geben. Wir sollten diesen 26 Staaten auch heute noch dankbar sein für die historische Errungenschaft eines Menschenrechts auf Asyl, das so viele Leben gerettet hat.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Es gibt Tage, die gehen als Wegmarken in die Geschichtsbücher ein, und gestern war so ein Tag.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Die Fraktion von CDU und CSU im Bundestag, Herr Wegner, Herr Evers, Herr Stettner, hat sich gestern entschieden, den demokratischen Grundkonsens des Nachkriegsdeutschlands zu verlassen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Carsten Ubbelohde (AfD): Das ist ja lächerlich!]

Die Union hat mit den Stimmen der AfD demagogische Anträge durch den Bundestag gebracht, die dem Grundgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention und dem EU-Flüchtlingsrecht widersprechen. Die Union hat sich gestern von Europa verabschiedet.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Friedrich Merz will alle ausreisepflichtigen Menschen einsperren. Das sind deutschlandweit etwa 50 000. Wenn man die mit Duldung hinzunimmt, wären es sogar 250 000. Viele von ihnen arbeiten oder machen eine Ausbildung, andere sind chronisch krank, und wieder anderen drohen im Herkunftsland Folter oder Tod. Aber in dem Furor der Union interessiert keinen mehr, warum Menschen nicht abgeschoben wurden. Jetzt, in diesem Wahlkampf, zählt offenbar für Sie nur noch, wer am meisten Hass gegen geflüchtete Menschen mobilisieren kann. Die Union sollte sich schämen!

[Anhaltender Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Ich will mal sagen, was der Bundestag gestern beschlossen hat: Kasernen und Verwaltungsgebäude sollen zu Lagern für Zehntausende Abschiebehäftlinge werden. Statt bezahlbare Wohnungen für alle will Merz jetzt Haftplätze für Zehntausende bauen. Wollen Sie so ein Berlin, Herr Wegner, Herr Stettner, riesige Abschiebeknäste statt Arbeit, Bildung und Zukunftschancen? Dieser Plan ist menschenfeindlich, und er ist demagogischer Wahnsinn.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Ähnlich verhält es sich auch mit Merz’ Ankündigung, am Tag eins seiner Kanzlerschaft die deutschen Außengrenzen flächendeckend zu überwachen und – Zitat Merz – ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen.

[Beifall bei der AfD – Rolf Wiedenhaupt (AfD): Es wird auch Zeit!]

Wie wollen Sie das denn machen? Mit einem Schießbefehl an der Grenze, wie es die AfD schon lange fordert? Macht sich das die CDU jetzt zu eigen? Ist das Ihr Konzept? Herr Regierender Bürgermeister, Sie sind Herrn Merz in der Debatte zur Seite gesprungen. Ich fordere Sie ganz eindringlich und ernsthaft auf: Widerstehen Sie dem Reflex des Rechtspopulismus!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Flächendeckende Grenzkontrollen und Zurückweisungen sind nicht nur das Ende der Dublin-III-Verordnung und des Schengener Abkommens, sondern sie sind auch schlicht nicht machbar. Die Gewerkschaft der Polizei hat dem schon eine klare Absage erteilt. Dies sei – Zitat – undurchführbar. Wie kann man denn etwas, das undurchführbar ist, ernsthaft im Bundestag beantragen? Für Merz und Linnemann heißt es offenbar: Von Trump lernen, heißt siegen lernen. Aber dabei gewinnt zum Schluss nur der rechtsradikale Mob, und der Zusammenhalt verliert, auch hier bei uns in der Stadt. Ich zitiere dazu Margot Friedländer, Holocaustüberlebende: „Bleibt menschlich!“

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Knapp 40 Prozent der Berlinerinnen und Berliner haben eine Migrationsgeschichte. Knapp 40 Prozent! Demnächst werden sie eine Mehrheit in unserer Stadt sein, eine Mehrheit der Minderheiten.

[Dr. Timur Husein (CDU): Euch wählen Sie trotzdem nicht! – Elif Eralp (LINKE): Einfach schäbig!]

Diese Menschen haben Angst, weil sie zu Sündenböcken gemacht werden. Ich frage Sie mal: Was kann denn die syrische Familie für den Psychopathen von Aschaffenburg? – Nichts!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Was kann die kurdische Mutter für den AfD-liebenden Amokfahrer von Magdeburg? – Nichts!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Zehntausende in unserer Stadt fragen sich heute, ob ihre Heimat Berlin auch morgen noch ihre Heimat sein kann, wenn der Hass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch noch den Staat erfasst. – Herr Regierender Bürgermeister, ich appelliere an Sie: Lassen Sie das nicht zu! Lassen Sie nicht den Hass regieren!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Thorsten Weiß (AfD): Doch!]

Wenn Sie Bürgermeister dieser vielfältigen Metropole sein wollen, dann stellen Sie sich vor die Menschen in dieser Stadt, und zwar vor alle Menschen in dieser Stadt! Lehnen Sie den fatalen Rechtskurs von Friedrich Merz offensiv ab!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Lieber Raed Saleh, wir haben ja eine Mehrheit links in diesem Haus. Ihr müsst nicht mit den Kolleginnen und Kollegen der Union regieren. Die Brandmauer steht jetzt hier. Überlegt euch, mit wem ihr diese Brandmauer schützen wollt!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Unsere Demokratie steht auf der Kippe. Friedrich Merz betont unablässig, es gäbe keine Zusammenarbeit mit den Rechtsextremisten. Die Mehrheit gestern im Bundestag war aber auch kein Zufall. Merz hat mit der Zustimmung der AfD gerechnet. Er hat den Dammbruch nicht nur in Kauf genommen, sondern er hat ihn anschließend auch noch gefeiert.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Wer eine demokratische Mehrheit will, der muss mit den anderen demokratischen Fraktionen vorher sprechen. Er muss Lösungen suchen und gegebenenfalls Kompromisse machen. Wer aber wie Merz mit Linken, SPD und Grünen nicht einmal redet, der setzt auf die Zustimmung von Rechtsradikalen und Neonazis im Parlament.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Friedrich Merz hat sich entschieden. Im Zweifel macht er es nicht mit der SPD oder mit den Grünen. Im Zweifel macht er es mit der AfD.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Er hat sich so in die Gefangenschaft von Weidel, von Höcke und von Chrupalla begeben. Ist Ihnen in der CDU eigentlich klar, was Merz da für Sie angerichtet hat? So jemanden können SPD und Grüne nach der Wahl doch nicht zum Kanzler machen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Ist Ihnen eigentlich klar, dass Merz und Linnemann gar keine andere Option mehr haben als die Koalition mit der AfD? Merz hat die politische Brandmauer nach rechts mit voller Absicht eingerissen. Und es waren auch heute vor 92 Jahren – das hat die Präsidentin erwähnt – Konservative, die Hitler an die Macht gebracht haben. Das sollte jeder und jede wissen, der am 23. Februar zur Wahlurne geht.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Ich kann heute ganz ernsthaft nur an uns alle appellieren: Berlin, die Stadt, in der der Holocaust geplant wurde, darf Familie Manasse und die Opfer der Nazis nicht vergessen. Die Erinnerung an sie ist uns Mahnung und Auftrag, gegen den Faschismus zu kämpfen. Die AfD muss verboten werden, denn sie steht nicht auf dem Boden unserer Verfassung und will die Demokratie beseitigen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Rolf Wiedenhaupt (AfD): So ein Unsinn!]

Unser Berlin, unsere vielfältige Stadt muss das gallische Dorf bleiben, die Stadt der Hoffnung, des Lebens und der Freiheit. Jetzt erst recht: Kämpfen wir! – Ich danke Ihnen!

[Anhaltender Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Präsidentin Cornelia Seibeld: Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat der Kollege Stettner das Wort.

[Beifall von Kurt Wansner (CDU)]