Piraten als Noch-Nicht-Partei. Ein Lehrstück.

Befehle auch an die LINKE? – Entwurf eines Wahlplakates in NRW

Der politische Geschäftsführer der Piraten Johannes Ponader beschrieb vorgestern in einem anschaulichen Artikel in der FAZ unter der Überschrift „Mein Rücktritt vom Amt“ seine Erlebnisse als ALGII-Empfangender. Die Agentur schikanierte, spionierte und intrigierte – Dinge, die vielen, die mit und von ALG II leben müssen, nicht unbekannt sind. Neu an diesem Artikel: der prekäre lebende, freiberufliche Theaterpädagoge, Schauspieler, Akademiker und Mittelschichtler berichtete hier aus seinem Alltag, noch dazu als Politiker einer aufsteigenden Partei, die sich anschickt, in den Bundestag einzuziehen.

Keiner aus den Schichten, die in der konservativen Presse gemeinhin als bildungsferne „HartzIVer“ gesehen werden. Sondern einer, der sogar zur Klientel des Blattes und noch dazu zur von Herausgeber Frank Schirrmacher interessiert bis verliebt beobachteten Partei der Piraten gehört.

Zudem ging Ponader mit einer bei den Piraten oft zu beobachtenden Mischung aus politischer Naivität, rhetorischem Witz und lebensnahem Pragmatismus an das Thema heran. Er beschrieb seine Situation, wie er sich von Job zu Job hangelte, zwischendurch immer wieder auf das Amt angewiesen war und sich von der Gängelei genervt fühlte. Er gab fast urtypisch eine Lebensauffassung eines postmaterialistischen Spektrums der Gesellschaft wieder, das zu Hunderttausenden in Großstädten lebt und für eine bestimmte Lebensphase oder auch für länger sich nicht einem Normalarbeitsverhältnis unterwirft, sondern gerade in Kreativbereichen projektförmig arbeitet und die Projekte auch nach Interesse und Neigung auswählt. Selbst prominente KünstlerInnen wie etwa die Schauspielerin Maria Simon sind darauf angewiesen, finanzielle Durststrecken mit Mitteln vom Amt zu überbrücken und berichten von ähnlichen Schwierigkeiten mit den Behörden wie Johannes Ponader. Die Besonderheit des Piraten: er ist seit kurzem in einem Ehrenamt, für das er einen relevanten Teil seiner Zeit aufwendet.

Der Artikel wurde denn auch im Netz und in den Medien heftig diskutiert. Die einen nahmen Ponaders Erfahrungen als Beleg für die Auffassung, dass das System HartzIV abgeschafft und durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, zumindest aber eine repressionsfreie Grundsicherung ersetzt werden muss. Eine Interpretation, die LINKEN Positionen durchaus nahe kommt. Andere, etwa die Springerpresse oder BA-Chef Alt, stellten Ponader als Sozialschmarotzer hin, der trotz 1,0-Abitur und Studienabschluss keiner „vernünftigen Arbeit“ nachgehe. Reinhard Bütikofer, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, fand, dass die Piraten zu viel Platz in der FAZ bekommen und musste sich von Frank Schirrmacher die Frage gefallen lassen: „Wer sind sie?“.

Bodo Ramelow kritisierte den Artikel ebenfalls. Er erklärte zunächst bei Twitter (mittlerweile teilweise gelöscht) und später auf seinem Blog, dass Ponader sein persönliches Schicksal in den Mittelpunkt rückt, anstatt, wie es im herausgehobenen politischen Amt angemessen wäre, die Debatte um Mindestlöhne, Tarifabsicherung und die Überwindung von HartzIV aufzunehmen. Die Piraten würden die Finanzierung der Parteiarbeit den Sozialkassen aufbürden, obwohl die Parteien über die staatliche Finanzierung Geld für die Bezahlung von Hauptamtlichen bekämen.

Der Thüringer Fraktionsvorsitzende musste für diese Kritik einen Shitstorm aus dem sympathisierenden Umfeld der Piraten einstecken. Haupttenor: der Angriff durch einen staatlich finanzierten Mandatsträger auf den Ehrenamtler, der sich im ALGII-Bezug für seine Partei engagiert, werfe ein bezeichnendes Licht auf Ramelows Auffassung zur Demokratie.

Diese ganze Auseinandersetzung ist ein Lehrstück für das Scheitern von Netzkommunikation im Allgemeinen und für das komplexe Verhältnis von Piraten und LINKEN im Besonderen. Ponaders Artikel hat eine Aufmerksamkeit von bürgerlichen Medien auf das Thema HartzIV gelenkt, die DIE LINKE schon lange nicht mehr in dieser Weise erzielt hat. Sein Bonus: seine Perspektive ist nicht die eines Berufspolitikers, sondern er steht als Symbol für ein Milieu, das politische Bedeutung gewinnt und sich derzeit erst auf dem Weg zur parteipolitischen Professionalisierung befindet.

Insofern strahlt Ponader einer Authentizität in Bezug auf das Thema aus, die die meisten langgedienten SozialpolitikerInnen der LINKEN notwendigerweise gar nicht mehr haben können. Man erinnere sich: als Elke Reinke 2005 für die Linkspartei in den Bundestag einzog, hatte sie eine ähnliche mediale Aufmerksamkeit für das Thema.

Das Verhältnis von Piraten und LINKEN ist ebenfalls im Lehrstück berührt, weil sich am Beispiel Ponader zeigt, wie heterogen die Menschen sind, die mit ALG II leben und unter dem HARTZIV-System aus ganz unterschiedlichen Gründen leiden. Da gibt es den ostdeutschen Langzeitarbeitslosen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder einen ordentlich bezahlten, seiner Qualifikation angemessenen Job zu finden. Da gibt es die frisch Promovierte, die auf einem Stipendium ihre Dissertation geschrieben hat, und nun die Wartezeit bis zum nächsten Drittmittelprojekt mit ALGII überstehen muss. Da gibt es aber eben auch urbane Lebenskünstler wie Johannes Ponader, für die ALGII eine Art Grundeinkommen ist, das sie allerdings mangels Bedingungslosigkeit zu erniedrigenden Winkelzügen und Auseinandersetzungen mit der Agentur zwingt und nicht bedarfsgerecht ausfinanziert ist.

Die individuelle und exemplarische Herangehensweise Ponaders an das Problem HartzIV kann aus LINKER Sicht als inhaltliche Schwäche kritisiert werden. Aus Sicht der Medienöffentlichkeit jedoch ist gerade dieser Ansatz seine große Stärke. Die Piraten sind nicht in der Position der Problemlöser, sondern sie repräsentieren gesellschaftliche Veränderungsprozesse und das Erstarken neuer Milieus und Öffentlichkeiten.

Negativkampagnen fallen in der derzeitigen Situation auf ihre Macher zurück, da die spezifisch piratische Authentizität bei allen ihren Problemen(unbestimmte Positionen, Abgrenzung gegen rechte und antifeministische Positionen etc.) im Parteiwerdungsprozess kaum angreifbar ist. Die Piraten symbolisieren derzeit das Lebensgefühl und die Lebensrealitäten einer größer werdenden Gruppe von Menschen, die für sich ein selbstbestimmtes Leben in einer von starken sozialen Fliehkräften gekennzeichneten Gesellschaft einfordern. Sie sind sowohl Projektionsfläche in der Mediengesellschaft als auch reale soziale Bewegung. Eine konsistente Politik, die solche emanzipatorischen Lebensentwürfe unterstützt, ist allerdings, wenn überhaupt, nur in Ansätzen erkennbar. Die Piraten sind deshalb eine Noch-Nicht-Partei mit starker medialer Resonanz. Ob aus ihnen überhaupt ein dauerhaft handlungsfähiger politischer Akteur wird, ist, das wissen auch viele PiratInnen, durchaus offen.

Ihr Milieu, das je nach Region aus Ex-WählerInnen aller Bundestagsparteien und aus NichtwählerInnen besteht, existiert mit seinen spezifischen Problemen und seinen politischen Hoffnungen jedoch unabhängig vom Entwicklungsprozess der jungen Partei. Mehr noch, dieses Milieu wächst.

Es gilt also, gerade die Lebensentwürfe jüngerer Menschen, ihre Kommunikationswege und die Heterogenität unserer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft stärker als bisher wahrzunehmen. Die Debatte über ein Grundeinkommen (in welcher Ausprägung auch immer) steht dabei für die Sehnsucht nach einem sozial abgesicherten, und damit selbst bestimmteren Leben. Es ist für viele in den vielfältigen prekären Milieus unserer Gesellschaft außerhalb der schmelzenden Kernbelegschaften eine reale Hoffnung auf Emanzipation und das Synonym für eine neue soziale Idee der Inklusion. DIE LINKE hat den Piraten das Wissen voraus, dass eine soziale Grundsicherung, die diesen Namen auch verdient, sowie eine Rückgewinnung des Öffentlichen im Sinne von Zugang und Teilhabe für alle ohne einen Kampf um Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums nicht zu haben ist. Die Piraten und ihr Umfeld sind kein monolithischer Block, sondern ein recht fragiles Milieu aus vernetzten Individuen. Darunter sind sehr viele, die eine gerechte Gesellschaft, die keinen zurücklässt, zum Leitbild ihres politischen Handelns machen. DIE LINKE sollte um sie werben.